Wie verändert Corona die Choreographie des Alltags?
Zunächst einmal freue ich mich sehr, dass ich ein bisschen erzählen darf! Beruflich bin ich als medizinische Fachangestellte im ärztlichen Notdienst tätig. Das heißt, dass ich in einer Praxis arbeite, die zu Uhrzeiten geöffnet hat, an denen die normale Hausarztpraxis geschlossen ist. Durch mein Berufsfeld habe ich also direkt mit Covid-19 zu tun. Es freut mich sehr, dass es Interesse daran gibt, wie unser Alltag derzeit aussieht – ohne die Fokussierung auf den Arbeitsalltag! Aber natürlich spielt dieser bei meiner Beantwortung der zugesendeten Fragen auch immer eine Rolle.
In meiner Alltagsstruktur gab es viele Veränderungen. Normalerweise bin ich nämlich Vollzeit-Studentin und mache den Job im Notdienst nur, um mir mein BAFöG etwas aufzubessern. Dadurch, dass die Universität für mich im Sommersemester nur online stattfand und auch im Wintersemester online stattfinden wird, ist mir viel Tagesstruktur weggebrochen. Ich habe auch deutlich mehr Schichten auf der Arbeit übernommen, wenn Kolleginnen ausgefallen sind. Normalerweise bin ich Frühaufsteherin und schlafe auch gar nicht allzu viel. Derzeit fällt es mir schwer, meinen Tagesablauf zu strukturieren, da meine To-Do’s auch zeitlich immer über einen sehr langen Zeitraum verteilt sind (beispielsweise Uni-Kurs um 8 Uhr morgens, dann viel Freiraum und dann wieder eine Schicht bis in die Nacht hinein). Die stärkste Veränderung sehe ich rückblickend allerdings zu Beginn der Einschränkungen, als ich wie viele andere Menschen auch die täglichen Pressekonferenzen des Robert-Koch-Instituts verfolgt habe. Insgesamt kommen mir die Tage länger vor, auch wenn sie mittlerweile ineinander übergehen und einander gleichen – klingt vielleicht paradox, fühlt sich aber nicht so an. Manchmal finde ich nur schwer die Kraft, meinem Alltag nachzugehen und würde am liebsten einfach den Tag über im Bett liegen bleiben.
Aber auch das Arbeiten an sich hat sich verändert. Derzeit gibt es einen eingeschränkten Zugang in die Praxis. Nicht benötigte Begleitpersonen haben keinen Zutritt und Patient:innen können die Praxis nicht einfach so betreten, sondern müssen klingeln, da die Tür geschlossen ist. Zudem arbeiten wir natürlich mit MNS oder FFP2-Maske und haben noch strengere Desinfektionszyklen als vorher. So desinfizieren wir die Flächen an der Anmeldung und die Türklingen deutlich häufiger während des Dienstes als früher. Der psychische Druck hat sich zumindest für mich deutlich verändert. Es liegt an mir und meinen Kolleginnen, die Corona-Anamnese vor Aufnahme in die Praxis durchzuführen. Das bedeutet, dass wir die Patient:innen zuvor befragen, um auszuschließen, dass das Risiko einer Covid-19 Infektion vorliegt. Natürlich werden auch Menschen behandelt, die ein solches Risiko vorweisen oder nachweislich erkrankt sind – wir müssen das nur vorher wissen, auch für praxisinterne Abläufe und Schutz der Mitarbeiter:innen und Ärzt:innen. Und leider antworten viele Patient:innen nicht wahrheitsgemäß. Das kann dann dazu führen, dass der gesamte Praxisbetrieb kurz steht, weil ungeplanter Weise alles nochmal desinfiziert werden muss. Im schlimmsten Fall können aus solchen Momenten Infektionen im Team resultieren. Unsere Gesundheit scheint keinen großen Stellenwert zu haben.
Wenn man das den ganzen Dienst im Hinterkopf hat, fällt es manchmal schwer, Freundlichkeit zu zeigen. Ich bin ein freundlicher Mensch, auch wenn meine Freund:innen hier jetzt vermutlich etwas lachen würden. Aber meine Freund:innen sind es, die als Ausgleich zu all dem Stress mein Gemecker aushalten müssen – obwohl ich schon versuche, es zu beschränken! Trotzdem gibt es Tage im Notdienst, an denen es schwerfällt, freundlich und nachsichtig zu sein, wenn einem bewusst wird, dass Menschen unsere Gesundheit nichts bedeutet. Oder auch die Gesundheit aller sich in der Praxis befindender Menschen. Ich weiß, dass Angst viel damit zu tun hat. Wir haben allerdings auch Menschen, die uns wichtig sind und die wir nicht gefährden wollen.
Körperlich habe ich mich sehr von Leuten zurückgezogen. Und wenn ich „sehr“ schreibe, meine ich das auch so! Meine letzte Umarmung hatte ich im März. Dazu muss man allerdings wohl wissen, dass ich auch allein lebe und derzeit in keiner Partnerschaft bin. Im April habe ich angefangen, mich wieder mit einem Freund zu treffen und das ist auch bisher der einzige engere Kontakt, der sich (wieder) regelmäßig entwickelt hat. Mehrere Freund:innen habe ich das erste Mal wieder Mitte September getroffen. Und auch von meiner Familie habe ich mich sehr zurückgezogen. Das klingt für einige vielleicht hart und ich habe auch schon zu hören bekommen, dass ich mich nicht für diese Menschen interessieren würde. Dass ich kaltherzig wäre, distanziert, abweisend. Allerdings sehe ich mich durch meinen Job als Risiko und finde es angenehmer, nach diesem Ausnahmezustand zu sagen „uff sorry dass ich mich so abgekapselt habe, das war echt nicht nötig“ als „tut mir wirklich leid, dass ich den Tod deiner Liebsten mitzuverantworten habe“. Das klingt für einige vielleicht drastisch, aber da ich in fast jeder Schicht mit Covid-19 Patient:innen zu tun habe, ist dieser Gedanke für mich leider Realität. Mittlerweile ist das für mich sehr belastend. Ich vermisse meine Freund:innen, mehr als ihnen vermutlich bewusst ist. Ich vermisse es, auf Partys dabei zu sitzen und einfach Gesprächen zuzuhören und vielleicht den ein oder anderen Witz zu reißen. Ich vermisse Umarmungen, andere Körperlichkeiten, Nähe, Zuneigung. Ich vermisse es, gedankenlos mit meinen Freund:innen zusammen zu sitzen und über alles Mögliche zu quatschen. Zu gerne würde ich einfach gerade nach der Vorlesung mit meinen Leuten auf dem Campus stehen und mich unterhalten. Ich vermisse Nachmittage mit meinem jüngeren Bruder und seinem Partner, an denen wir einfach nur Zuhause sitzen und lachen. Ich vermisse meinen Alltag und alle Menschen, die Teil davon waren. Aber ich möchte wirklich nicht der Grund für eine Beerdigung sein. Langsam komme ich ein bisschen aus dieser starken Isolation zurück. Aber tatsächlich aus ziemlich egoistischen Gründen: ich habe Angst vor dem Herbst und Winter und glaube nicht, dass ich eine noch stärkere Isolation und auch weitere Belastung auf der Arbeit aushalten würde, ohne jetzt nochmal die Menschen zu sehen, die mir sehr wichtig sind. Und ich vermisse sie auch einfach sehr stark. Natürlich gehe ich jetzt nicht von 0 auf 100 zurück – ich habe bestimmte Menschen, mit denen ich mich treffe. Eine feste Gruppe. In dieser Gruppe von Menschen kann ich darauf vertrauen, dass jede:r nach der Rückkehr aus einem innerdeutschen Risikogebiet nicht zu einem Treffen kommt oder auch bei Krankheitssymptomen Zuhause bleibt. Dieses Vertrauen sorgt dafür, dass ich mich ohne allzu starke Bauchschmerzen mit ihnen treffen kann. Aber es bleibt der kleine Gedanke im Hinterkopf, dass ich diese Menschen gefährde, wenn wir uns treffen und dass ich niemanden infizieren will. Und die Angst vor dem Herbst und Winter.
Auch bei fremden Menschen versuche ich, auf Abstand zu bleiben. Natürlich geht das nicht immer: in meinem Job würde das nicht funktionieren, weswegen ich mich selbst als Risiko begreife. Ich kann kein EKG schreiben oder Verbände wechseln, wenn ich 2m Abstand halten soll. Umso wichtiger ist es doch, dass wir alle dort im Alltag aufpassen, wo es möglich ist. Sei dies nun im Supermarkt, im Bus oder auch einfach in der Innenstadt. Dass das viele Menschen „nicht so eng sehen“, weiß ich. Ich sehe das, wann auch immer ich mal im Supermarkt bin, mit dem Bus fahre oder durch die Innenstadt gehe. Ich vermute, dass sich dies in meiner Stadt erst ändern wird, wenn auch hier die Zahl der Neuinfektionen stark ansteigt. Bisher sind wir ganz gut durch die Pandemie gekommen, was natürlich nicht heißt, dass es hier keine Infektionen oder Tote gab. Aber derzeit ist auch hier wieder ein Anstieg zu bemerken. Dabei werden die Patient:innen deutlich jünger – was nicht heißt, dass nicht auch sie ins Krankenhaus müssen. Und es ist wirklich schwer, die Angst von einer Person am Telefon zu hören, die kaum Luft bekommt und wegen ihres positiven Corona-Testes jetzt nicht ins Krankenhaus gehen mag. Die Angst hat, zu sterben und die genauso alt ist wie mein jüngerer Bruder.
In meinem Freundeskreis glaube ich, dass sich die körperliche Nähe wieder normalisiert hat. Natürlich bin ich jetzt auch kein Helikopter, der ständig über diesen Menschen kreist und alles wahrnimmt, aber ich denke, die Vorsicht nimmt langsam ab. Natürlich weiß ich nicht, ob es daran liegt, dass man Covid-19 nicht mehr so ernst nimmt oder weil es nicht mehr auszuhalten war, sich selbst so zu isolieren. Beides wird sich bei diesen Menschen finden lassen, denke ich. Dabei möchte ich hier nochmal betonen, dass die Treffen ganz gewiss nicht so aussehen, wie vor März 2020! Ja, man trifft sich und ja, sicherlich auch häufiger als noch im Mai. Aber wichtig ist ein gewissenhafter Umgang mit der Situation, den es sicherlich bei vielen gibt. Dass derzeit viele der Neuinfektionen auf private Partys zurückgehen, weiß ich. Es ist auch nicht auszuschließen, dass das in meinem Freundeskreis irgendwann passieren wird. Nur sehe ich die Alternative der kompletten Isolation als nicht umsetzbar – die Vereinsamung trifft jetzt bereits viele sehr hart. Es sollte also irgendwie einen Mittelweg geben, den wir in meinem Freundeskreis hoffentlich gefunden haben. Kommunikation ist in diesem Punkt sicherlich wichtig, da es ganz normal ist, dass wir die Infektionsgefahr alle unterschiedlich einschätzen. Ich bin da vermutlich diejenige, die alles am Strengsten sieht – aber das liegt vielleicht auch einfach an meinem Job. Seit März fürchte ich kaum etwas mehr, als einen meiner Liebsten aufgrund ihrer Covid-19 Infektion ins Krankenhaus einweisen zu müssen.
Die nächste Frage war, was mir körperlich durch die Covid-19 Pandemie und den daraus resultierenden Einschränkungen fehlen würde. Wie gesagt: meine letzte Umarmung war im März. Neben Intimität fehlt mir auch einfach simpler Körperkontakt. Ich weiß auch nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich jetzt meine wichtigsten Menschen umarmen würde. Vermutlich würde ich weinen, weil die ganze Last abfallen würde. All der psychische Stress auf der Arbeit, im Studium, in der allgemeinen Situation. Aber vielleicht würde ich mich auch einfach festhalten, solange bis diese Umarmung unangenehm lang ist.
Nicht vermissen tue ich allerdings das Händeschütteln mit Fremden. Und ja, es gab vorher wirklich auch Patient:innen, die einem die Hand schütteln wollten und es oft nicht so nett fanden, wenn man das abgelehnt hat. Von mir aus müssen wir zu dieser Norm auch gar nicht mehr zurückkehren. Wer schüttelt schon gerne die schwitzige, lasche Hand einer fremden Person?
Zu der Frage, ob ich mich seit dem Ausbruch von Corona meinen Mitmenschen näher oder ferner fühle, kann ich nur wenig aussagen. Zu meinen fremden Mitmenschen, die man vielleicht mal beim Einkaufen oder so trifft, hat sich nichts verändert. In meinem Freundeskreis gab es einige Veränderungen, aber zu den Personen, zu denen guter Kontakt besteht, hat sich nur wenig verändert. Man sieht und spricht sich vielleicht nicht mehr so oft wie sonst, auch weil natürlich der Uni-Alltag am Campus wegfällt, aber wenn man sich dann unterhält, fühlt es sich fast wie früher an. Natürlich gab es auch eine Entfernung zu manchen, allerdings aus diversen Gründen. Aber zu Beginn der Einschränkungen war für mich schon zu spüren, dass viele sich auf ihre wichtigsten Menschen besinnen (zumeist ihre Familie). Viele meiner Freund:innen sind auch im März zu ihren Eltern zurückgegangen. Für mich stand diese Option nie im Raum, auch unter anderem wegen meines Jobs. Alle fuhren zurück und ich blieb hier. Aber manchmal merke ich derzeit schon, dass es mir schwer fällt, emotionale Nähe zu bestimmten Bekannten aufrecht zu erhalten. Menschen verändern sich während einer Krise. Ich finde es schwierig, die gesamte Beziehung nur aufgrund dessen zu beurteilen, aber in manchen Fällen tut eine Pause vielleicht ganz gut und es wäre möglich, dass man nach der Krise wieder zueinander findet. Ich würde es mir zumindest wünschen.
Andere Körper im Alltag als Bedrohung wahrzunehmen, finde ich eine sehr starke Formulierung. Natürlich ist mir im Job bewusst, dass jeder Mensch dort ein potenzielles Risiko darstellt. Das sieht man ja auch allein daran, dass wir mit Schutzmasken arbeiten oder dass wir die Patient:innen vor der Aufnahme in die Praxis erst einmal einer Covid-19 Anamnese unterziehen. Das dient nicht nur zu unserem Schutz, sondern natürlich auch zu dem Schutz anderer, eventuell auch vorerkrankter Patient:innen, die sich in der Praxis aufhalten. Es gibt immer wieder Menschen, die diese Maßnahmen für übertrieben halten – aber wie bereits erwähnt, ist die Corona-Lage in meiner Stadt derzeit auch überschaubar. Trotzdem sind die ständigen Diskussionen darum, warum man in der Praxis einen Mund-Nasen-Schutz tragen oder ohne unnötige Begleitpersonen (davon sind also zB Dolmetscher:innen oder Betreuer:innen ausgenommen) in die Praxis gehen soll einfach sehr ermüdend. Nicht jede Diskussion an sich, sondern die Masse und die ständige Wiederholung. Es gab auch schon die Androhung, dass man mich anzeigen wolle – wegen „unterlassener Hilfeleistung“, weil ich Personen ohne MNS (die ihn nicht aus gesundheitlichen Gründen nicht tragen können) nicht in die Praxis lassen wollte. Alle sind derzeit sehr belastet und wir sind dann diejenigen, an denen sich die aufgestauten Emotionen entladen. Das war auch vor Corona so, derzeit ist die Intensität und Häufigkeit einfach anders oder wenigstens kommt es mir so vor.
Umdenken musste und muss ich besonders beim Aufrechterhalten meiner sozialen Kontakte. Ich versuche, einen für mich vertretbaren Mittelweg zu finden. Im Sommer war es sicherlich einfacher, da man sich auch problemlos draußen treffen konnte. Mit der kalten Jahreszeit muss ich vermutlich wieder selektiver sein, mit wem ich mich dann privat treffe. Es gibt natürlich auch in meinem Freundeskreis Menschen, die das alles nicht so ernst nehmen und mit denen es für mich im Herbst und Winter schwierig werden könnte. Aber auch hier kommt es sicherlich darauf an, wie sich die Corona-Lage überhaupt noch wieder entwickelt. Kommt es wieder dazu, dass erneut starke Einschränkungen nötig wären, sind diese Überlegungen sowieso überflüssig. Ebenfalls, wenn es zwar einen starken Anstieg der Fallzahlen gibt, aber keine Einschränkungen folgen. Dann würde ich mich wieder mehr zurückziehen, um andere vor dem Virus zu schützen, das ich übertragen könnte. Viel hängt davon ab, was noch kommt. Ich habe mich davon verabschiedet, jetzt schon für November planen zu können.